Erfahrungen


Für das Jahr in Ecuador habe ich mir vor allem Eines vorgenommen: Einzigartige und neue Erfahrungen zu machen. Und davon gibt es hier genug: Unglaubliche Dinge, positive Erfahrungen, aber auch Ereignisse, die negative Eindrücke hinterlassen haben.

Unterwegs

Nach gut einem Monat zeigt mir die Stadt auch ihr anderes Gesicht: Auf dem Weg ins Heim werde ich von zwei Männern auf einem Roller überfallen, die mich mit einem Messer bedrohen und das Handy abnehmen. Was in Deutschland nie ein Thema wäre, wird hier zum Problem: Wie kann ich hier sicher sein? Die Erfahrung eines Raubüberfalls hat diese Frage neu auf den Tisch gebracht.
Santo Domingo zählt in Ecuador zu den gefährlichsten Städten, hier muss man sehr vorsichtig sein: Nach und vor halb 7 morgens und abends sollte man das Haus nicht verlassen, alleine sollte man nicht die Straßen betreten und einsame Gassen sollten gemieden werden. Nachts hört man Schüsse (nein, das ist kein Feuerwerk) und wirklich sicher fühlt man sich auf dem Weg nie. Alles in allem ist Santo Domingo nun mal eine lateinamerikanische Großstadt, hier findet man so ziemlich alles.

Unvergleichlich gute Laune
Auch die Arbeit bietet verschiedene Erfahrungen: Mal macht sie viel Spaß und ist auch echt entspannt, mal ist sie anstrengend und zerrt an den Nerven: So auch der Unterricht an der Schule. Manchmal merkt man, dass von den Informationen eigentlich so gar nichts ankommt oder die Schüler keinen Lust haben, mitzumachen. Dabei kommt es gelegentlich auch zu kleinen Pannen: Schüler klettern mir auf einen Baum und weigern sich wieder runterzukommen, verschwinden einfach mal oder, am schlimmsten, ziehen eine riesige Dramashow ab.
Und auch wenn es normalerweise echt gut funktioniert, mag auch die Arbeit mit den Kleinen mal einfach nicht klappen: Wenn der Schlaf für die gute Laune nicht ausreicht, das Spielzeugauto jemand anderem gehört oder die Socken einfach stören, äußert sich das schonmal in einem nervenbelastenden Tobsuchtsanfall.
Seit Oktober arbeiten wir noch dazu jetzt den ganzen Tag: Nachmittags bin ich für die Kinderbetreuung von Patrick (Bild) inklusive Baden und Snack zuständig. Außerdem unterstütze ich auch die Erzieher aus Patricks Haus.
Mit der täglichen Arbeit vergeht die Zeit auch schon viel schneller: man passt auf den Kleinen auf("Patrick, no!"), nimmt am Refrigerio teil (Ein Snack am Nachmittag, meistens Obst, aber manchmal auch so etwas wie Müsli oder Jogurt), und stellt das Kind unter die Dusche. Leider kann Patrick noch nicht in der Dusche stehen, weshalb ich ihn die ganze Zeit festhalten muss und selber einiges an Wasser abkriege. Nachmittags helfe ich außerdem manchmal bei den Nachmittagsaktivitäten von Patricks Haus, etwa Basteln oder etwas Sport.

So wächst Ananas
Nach der Arbeit geht's dann wieder zurück in unser Haus, wo wir essen, eine Serie anschauen (selbstverständlich auf Spanisch) und danach schon gleich ins Bett gehen: Völlig fertig schlafe ich jeden Tag ein. Das liegt wohl am Klima und an der Arbeit: Morgens ist es immer sehr kalt und nebelig und mittags wird es dann schwül und heiß, sodass jeder Schritt anstrengend ist.
Am Wochenende wird meistens dann gemeinsam gekocht, geputzt und gewaschen oder auch Ausflüge unternommen: Einmal nimmt uns unser Nachbar mit auf seine große Finka. Eine Stunde lang fahren wir aus der Stadt aufs Land hinaus, wobei ich zum ersten Mal auf der Ladefläche eines Pick-Up mitfahren darf. Über mehrere Hektar erstrecken sich Wälder aus Papayabäumen, Ananasstäuchern, Maracuja und Kakao. Wir ernten selber ein paar Orangen (Oder versuchen es zumindest), probieren und nehmen sogar etwas zum Essen mit. Andere Wochenenden gehen wir ins Shopping, das Einkaufszentrum von Santo Domingo, wo es ein Kino, eine Handvoll Geschäfte und einen riesengroßen Supermarkt nach amerikanischem Vorbild gibt, oder zum Eisessen (Als verantwortungsvolle Erwachsene natürlich zum Mittagessen).

Mittlerweile funktioniert auch die Kommunikation immer besser. Zwar verstehe ich immer noch nicht alles, mir fehlen noch Wörter oder die nötige Grammatik geht im Gespräch verloren, aber ich habe immer mehr den Eindruck, dass mich die Leute verstehen und das Sprechen einfach leichter fällt. Mit der Arbeit am Nachmittag ist leider auch der Spanischunterricht weggefallen und die einzige Übung ist wirklich das Gespräch. Wenn man sich hier mit Teresita, der Heimleiterin, den Erziehern, dem Sozialteam oder der Nachbarn unterhält, klappt auch die Unterhaltung immer besser. War am Anfang ein einfacher Smalltalk oder ein normales Gespräch noch nicht möglich, so kann ich jetzt schon Dinge erzählen oder erklären. Eine weitere Übung ist auch der Unterricht, bei dem ich 40 min eigenständig reden muss, Begriffe oder Aufgaben erklären muss oder einfach nur Anweisungen geben muss. Trotzdem fällt mir das spontane Reagieren immer noch echt schwer, vor allem wenn man gerade nicht darauf eingestellt ist, Spanisch zu reden.

Mitte Oktober haben wir dann unseren ersten Urlaub eingeplant: Fünf Freiwillige, alle aus dem Casa Hogar unternehmen zusammen einen viertägigen Trip nach Quito, die Hauptstadt Ecuadors und Otavalo, einer kleineren Stadt mit indigenem Markt. Am Donnerstag, den 11. Oktober sitzen wir dazu schon um 5:15 im Bus nach Quito. Die Fernbusse hier sind überraschend bequem, pünktlich und billig: Für die dreistündige Fahrt zahlen wir lediglich $3.
Die Basilika Voto Nacional 
 Morgens angekommen, beziehen wir gleich unser Hostel: Wir kommen in einem kleinem Guesthouse nahe des Zentrums in einem Familienzimmer unter. Zwar sind wir hier die einzigen Gäste, jedoch ist das Hostel preiswert, schön und ruhig. Vormittags besichtigen wir den historischen Stadtkern von Quito: Hier gibt es viele alte Kirchen, einen großen Platz und historische Gebäude, deren Baustil an Europa erinnert. Mittags gehen wir typisch ecuadorianisch Mittagessen: Für $2,50 erhalten wir eine Hühnchensuppe mit Kartoffeln und Gemüse, einen Hauptgang aus Hähnchen mit Reis, Kartoffeln und Salat als Beilage, dazu ein Glas gesüßten Fruchtsaft (Die Säfte werden hier grundsätzlich nachgesüßt) und eine Nachspeise, die aus dem typischen Käse mit Feige und Sirup besteht. Nachmittags treffen wir uns dann mit einem Ecuadorianer, dem Vater meines Nachbarn, und machen  einen Ausflug zum Panecillo, einer großen Skulptur auf einem Hügel über Quito. Die Statue, die einem Engel gleicht, bildet die Virgen de Cisne, die Schutzpatronin Ecuadors ab. Von hier aus hat man einen schönen Ausblick auf die ganze Stadt. Quito erstreckt sich bis zum Horizont: Die Millionenstadt ist nur wenige Kilometer breit, dafür allerdings 50 Kilometer lang und erstreckt sich über beide Erdhalbkugeln.  Gemeinsam probieren wir auch noch ein paar Spezialitäten an einem Stand auf dem Hügel: Verschiedene Heißgetränke, welche ein bisschen an Glühwein erinnern, und frittierte Gebäckstücke, Pristiños. Diese sind eine ecuadorianische Spezialität aus den Anden und schmecken uns besonders gut. Abends besuchen wir eine Bar an der Ronda, eine Gasse, die für ihre Bars und Restaurants bekannt ist. Im Zentrum von Quito kann man sich auch nachts einigermaßen sicher bewegen, da hier die Polizei besonders präsent ist.
Gipfelglück
Für den nächsten Tag haben wir den Aufstieg zum Pichincha, einem Berg direkt neben Quito, geplant. Zuerst nimmt man dafür eine Gondel aus dem Tal von Quito (2800m) rauf auf 4000m, die allerdings, auf Touristen angelegt, $9 kostet. Nach 18 Minuten Gondelfahrt kommt man dann oben an. Zum Gipfel ist es allerdings noch ein Stück weit zu gehen. Schon von der Gondelstation aus kann man die ganze Stadt und die Anden überblicken. Nach ein wenig Wanderung kommt man dann zu einer Schaukel, auf der man über die Stadt schaukeln kann. Wir entscheiden uns dann, den Weg weiterzuführen. Die Luft ist so dünn wie noch nie und jeder Schritt ist anstrengend. Die Strecke geht hauptsächlich steil bergauf und man muss alle 100 Meter eine Pause machen, um sich zu erholen. Nach zwei qualvollen Stunden Wanderung teilt sich dann die Gruppe: Drei von Fünf entscheiden sich für den Abstieg, während ich zusammen mit Luis den Gipfel im Blick habe. Von diesem Punkt an ändert sich auch der Weg drastisch: Statt einem ausgebautem Wanderweg gehen wir zuerst auf einem Trampelpfad dem Gipfelmassiv entlang, dann hoch über ein riesiges und steiles Sandfeld, die mit Abstand anstrengendste Passage, und schließlich müssen die letzten Höhenmeter über Felsen und Schotter geklettert werden. Allerdings ohne Sicherung oder Ähnliches: Nach dem Sandfeld hören sämtliche Markierungen oder Wegweiser einfach auf und wir dürfen uns den besten Weg nach oben praktisch selber suchen. Auf 4696 Metern über dem Meeresspiegel ist das Ziel dann gigantisch: Der Blick reicht weit über Quito hinaus und das Gipfelglück macht die ganze Qual des Aufstiegs wieder aus.

Abends nehmen wir den Bus nach Otavalo, einer kleinen Stadt in den Anden. Dort findet jeden Samstag der größte Markt für Kleidung und Kunstgegenstände in ganz Ecuador statt. Der Unterschied zu Quito ist hier wieder groß: Hier leben viele indigene Einwohner noch mit allen Traditionen. Das merkt man vor allem am Aussehen: Die Frauen tragen lange Haare, zu Zöpfen geflochten, lange schwarze Röcke und über den weißen Blusen oft Ponchos. Die Männer tragen ebenfalls die langen Haare in Zöpfen und tragen oft Hüte und Stoffhosen.
In Otavalo probiere ich zum ersten Mal ein typisches Frühstück. Dabei wird zuerst eine Semmel mit Käse, Marmelade und Butter gemeinsam mit einem Kaffee serviert. Später gibt es dann Reis mit Hühnchen, Salat und Kartoffeln und Eiern und schließlich noch einen Fruchtsaft dazu. Auf jeden Fall eine interessante und leckere Erfahrung, aber ziemlich sättigend und ungewohnt.
Am Markt kann ich dann einmal einkaufen: Durch gutes Verhandlungsgeschick kann man einige Schnäppchen finden. Man betritt den Markt und findet sich in einem Meer aus Tüchern, Decken, Pullovern, Taschen und Mützen wieder. Von allen Seiten wird Ware angeboten und die bunten Stoffe ziehen sich so weit das Auge reicht. Viele Sachen sind aus Alpakawolle und in Handarbeit hergestellt und bilden indigene Bilder und Muster ab. Überraschenderweise sind hier nur wenige Touristen unterwegs und man kann sich in Ruhe umsehen und Geschenke besorgen.

In diesem Urlaub überquere ich zweimal den Äquator, decke mich mit Waren auf einem Markt ein und probiere traditionelles und typisches Essen. Ich mache unglaubliche neue Erfahrungen, wage mich so hoch hinaus wie noch nie und lerne das Land besser kennen. Die Unterschiede innerhalb Ecuadors sind hier einmal ziemlich deutlich geworden: Die Leute, die Architektur, das Essen, die Natur und das Klima. Es fühlt sich an, als wäre man in einem ganz anderem Land. In Quito stechen wir als offensichtlich Weiße nicht mehr so heraus (Ganz viele amerikanische Touristen), wir bekommen nicht mehr so viel Aufmerksamkeit geschenkt als in Santo Domingo. Die Bauweise der Häuser unterscheidet sich komplett: Die Wände in Quito sind dicker, die Häuser teilweise alt und mit mehreren Stockwerken. Es gibt sogar richtig hohe Gebäude und auch viele hochwertige Wohnviertel, von denen man in Santo Domingo nur wenige finden kann. Die ganze Stadt ist sauberer, es gibt weniger Staub und Abgase als am Fuß der Anden. An den Seiten von Quito erstrecken sich die riesigen Anden mit Schluchten und grün bewachsenen Bergen. Es ist immer echt kühl und die Luft ist leichter und frischer als in Santo Domingo.

Diese Gegensätze ziehen sich durch unseren ganzen Aufenthalt. Hoch und tief, laut und leise, gute und schlechte Erfahrungen.
In meiner Zeit bis jetzt habe ich von beidem vieles erlebt: Erfahrungen, auf die ich gerne verzichten könnte, aber auch diese, die ich gegen nichts in der Welt eintauschen würde. Und diese Momente sind es, die jeden Zweifel aus dem Weg räumen: Ich habe die richtige Entscheidung getroffen.

Das ist doch der Gipfel!




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