Ganz nah, aber doch so fern
Im Haus fühle ich einen Kloß in meinem Hals: Noch nie war der Unterschied zu Deutschland so groß wie hier. Das Schlafzimmer wird nur durch ein Bettlaken von der Küche getrennt, die Wände aus Stroh durch Pappkarton verstärkt. Eine Situation, von der ich in Deutschland nie geträumt hätte. Und trotzdem ist die Familie glücklich. Zum ersten Mal wird mir so richtig klar, wie viel wir eigentlich besitzen und wie privilegiert wir unser Leben führen: Wir kaufen Dinge, die wir nicht brauchen und legen viel zu viel Wert auf Markenprodukte.
In Jipijapa wird die Situation besprochen: Wird das Kind liebevoll und unterstützend in diesem Haushalt aufgenommen? Können sie ein weiteres Kind umsorgen? Wird er dort in die Schule gehen? Besonders der letzte Punkt lässt mich ein wenig zweifeln, nachdem bereits der Bruder mit 13 Jahren nicht zur Schule geht. Auf der Rückfahrt habe ich genug Zeit, um über die Situation nachzudenken. Ein Haus in Ecuador |
Vor kurzem hat uns die Heimleiterin Teresita die Hintergründe der Jungs zukommen lassen. Viele der Schicksale ergreifen das Herz: Jungs, die von ihrer Mutter zurückgelassen wurden, schwer misshandelt wurden oder auf den Straßen Santo Domingos ums Überleben kämpfen mussten. Und obwohl viele der Hintergründe extrem schwer und traurig sind, sind die Jungs meist glücklich und gut gelaunt. Doch bei der Wiedereingliederung in Familien, in denen sie Gewalt, den Schrecken der Drogen oder Hunger miterleben mussten, stellt sich bei mir eine Frage:
Ist es immer das Beste, wenn die Kinder wieder zurück in die Familien kommen? In dem Heim geht es den Jungs schon gut: Drei warme Mahlzeiten am Tag, ein eigenes Bett, Freizeitangebote und Ausflüge, die sich viele Familien niemals leisten könnten, medizinische Versorgung, die Behütung vor den Gefahren Santo Domingos und eine Schulbildung. Viele Familien können ihnen das nicht bieten. Und so kommen viele der Kinder wieder zurück in die Familie, auch wenn es ihnen dort nicht so gut gehen wird wie im Heim. Doch für die Jungs zählt oft Eines: Blut ist dicker als Wasser.
Kinder und Jugendliche, bei denen es keine Familie gibt oder eine Wiedereingliederung unmöglich ist, etwa wegen Drogensucht, sind zur Adoption freigegeben oder sind Teil eines Programms des Heims, bei dem Jugendliche auf den Einstieg in die Gesellschaft und die Unabhängigkeit vorbereitet werden sollen. In diesem Projekt sind gerade 3 Jungs ab 15 Jahren, die gemeinsam in einem Haus leben, wo sie für den gesamten Haushalt selbst verantwortlich sind: Kochen, Putzen, Einkaufen. Besonders Wert wird darauf gelegt, dass die Jungs die Schule beenden und eine Arbeit finden. Mit 18 Jahren können sie sich dann entscheiden, ob sie im Heim leben bleiben, bis sie eine Arbeit und eine sichere Bleibe haben, oder ob sie ausziehen. Die Unterstützung bleibt jedoch.
Die Straßen Santo Domingos |
Besonders für Frauen und Mädchen ist es schwierig: Das Frauenbild beschränkt sich auf Kochen und Bett: Hat ein Mann keine Lust mehr, lässt er sich scheiden. Circa 80% der Frauen sind alleinerziehend und geschieden. Oft sind sie stark abhängig von ihrem Mann und oft auch Opfer häuslicher Gewalt. Da es auch kaum den Willen und die Möglichkeiten zur Verhütung gibt, werden viele Mädchen schon sehr jung Mutter: Etwa mit 16 bis 18 kriegen sie ihr erstes Kind und heiraten.
Durch dieses feindliche Frauenbild ergibt sich viel Leid auch für junge Mädchen: In die Notunterkunft der Stiftung kommen oft Mädchen, die von der Familie als Prostituierte verkauft, von einem Familienmitglieder vergewaltigt und geschwängert wurden oder missbraucht wurden, bis zu 10 Jahre jung.
Je länger ich hier bin, desto offensichtlicher werden auch diese Strukturen: Und obwohl ich so nah am Geschehen bin, habe ich mich noch nie ferner von all diesen Dingen gefühlt: Die Gesellschaft scheint mir zum ersten Mal wirklich fremd. Ist da auf der einen Seite das vor Freude und Lebenslust strahlende Lateinamerika, scheinen da doch von der anderen Seite die Schatten des Landes durch: Kriminalität, Gesellschaft, Drogen und Korruption. Das ganze System zeigt seine Schwierigkeiten.
Das sieht man auch an den Unterschieden innerhalb des Landes: Verlässt man die Stadt, wird aus einer Teerstraße ein Kiesweg, werden aus Häusern aus Beton Strohhütten, verschwinden plötzlich das Internet und die fröhlich-bunten Verschönerungsversuche der Stadt. Im Urlaub wird dieser Unterschied besonders deutlich: Der nächste Trip geht nach Cuenca und Guayaquil, beides große Städte.
Acht Stunden dauert die erste Fahrt, von Santo Domingo in den Süden, nach Cuenca, eine Stadt in den Anden, die für ihre Altstadt bekannt ist. Unser erster Ausflug geht dort nach Cajas, ein Nationalpark auf fast 4000m über dem Meeresspiegel. Die Luft ist hier frisch und dünn und die Wolken hängen in den umliegenden Bergen wie ein dichter Nebel. Hier sind viele kleine Seen und Tümpel und wir wählen eine kurze Route um einen See. Unsere entspannte Wanderung wird mehrmals durch kleine Fotopausen unterbrochen (Die Aussicht ist einfach atemberaubend) und geht zum Glück hauptsächlich über eine ebene Strecke. Denn bei nur kleinen Steigungen merkt man wieder sofort die Höhenluft. Trotz kalter Temperaturen (vergleichbar mit deutschem Herbst) genießen wir den Ausflug in die Natur ganz besonders: Fernab vom Lärm, vom Gestank und dem Verkehr der Stadt ist es hier unglaublich ruhig und friedlich.
Abends besuchen wir den Hauptplatz Cuencas, wo gerade eine Wahl zur Schönheitskönigin stattfindet. Vor dem Laufsteg und den Chicas in Hüten versammelt sich eine riesige Menge an Zuschauern, denn diese Wettbewerbe sind hier besonders beliebt. Wir können den ganzen Trubel eigentlich nicht wirklich verstehen und gehen deshalb lieber ein Eis essen: Es gibt hier eine Eisdiele mit typisch italienischem Eis, das erste nach Monaten. Das ist zwar völlig überteuert, aber dann doch sein Geld wert. Und so klingt unser erster Tag Urlaub mit einem Eis auf dem umwerfendem Hauptplatz Cuencas aus.
Die Architektur Cuencas erinnert eher an eine europäische Stadt als an Lateinamerika: alte Gebäude, schön gestaltete Plätze mit Denkmalen und Brunnen, Kopfsteinpflaster. Cafés findet man hier an jeder Ecke und sogar die Geschäfte sehen seriös aus. Kein Wunder, denn irgendwie macht die Stadt den Eindruck als wäre sie auf junge Amerikaner auf Selbstfindungstrip ausgerichtet: Neben coolen modernen Läden gibt es hier auch viele Angebote zur eher alternativen Selbstfindung: Ominöse Kräuterteemischungen, lokale Sekten und weitere Abenteuerangebote. Hier findet man auch Dinge, die es wahrscheinlich so in ganz Ecuador nicht mehr gibt: Vegane Restaurants, ausländisches Essen wie etwa Sushi, Schreibclubs und Pfannkuchenfrühstück.
Die Überreste von Pumapungo |
Ein weiteres Highlight des Museums ist die ethnologische Abteilung, wo die verschiedenen indigenen Stämme Ecuadors in den verschiedenen Gegenden dargestellt sind.
Am Ende unserer Tour wird klar, dass man noch viel mehr Zeit in Cuenca verbracht haben könnte, doch es geht gleich weiter nach Guayaquil.
Ausblick vom Leuchtturm Guayaquils |
Später gehen wir noch zum Hauptplatz Guayaquils (natürlich wieder mit Kathedrale, die allerdings nicht an die in Cuenca rankommt). In diesem Park gibt es eine weitere Überraschung: Auf den Grünflächen leben große Leguane, einfach so. Diese sind so friedlich, dass man sie glatt streicheln könnte (würde ich aber nicht versuchen).
Nach drei Tagen endet die Reise allerdings schon wieder und wir sitzen im Bus zurück in unser wunderschönes Santo Domingo.
Für mich bleibt Ecuador ein Land der Kontraste: Wie ein roter Faden ziehen sich die Unterschiede durch meinen Aufenthalt: Der Unterschied zwischen der Vorstellung und Realität, der reichen Städte, wie etwa Cuenca, die ein hochmodernes, technisch ausgestattetes Museum bauen können, vom Staat offenbar viel Geld erhalten, und der ärmeren Städte, wie Santo Domingo, deren Existenz und Größe vom Staat mehr oder weniger geleugnet wird, der Unterschied wenn man im hochmodernen Bus immer W-lan auf dem Weg hat und dann in Häuser kommt, in denen das Wasser vom Fluss geholt wird. In keinem Aspekt gibt es hier einen gemeinsamen Nenner. Und mit jedem Blogeintrag, den ich schreibe, merke ich wie auch die Einträge immer mehr kontrastieren. Ist da die Schönheit und das Staunen, das Ecuador beim Reisen auslöst, diese unendliche Freiheit die man empfindet, so sind da auch die Situationen, die zum Denken verleiten, die einem stark ans Herz gehen. Doch es ist wichtig, beides zu teilen: Denn niemals gibt es nur die positiven Aspekte, die dieses Jahr so einzigartig und wunderbar machen, sondern auch die hier unumgänglichen Erfahrungen und Erlebnisse, die dieses Jahr mit sich bringt.
Guayaqui(l) |
Danke für Deinen tollen Blog. Wir lernen immer neue Seiten Ecuadors kennen. Wenn Du Valle Feliz besuchen solltest, schreibe bitte Deine Meinung dazu. Weiterhin viel Spaß u. neue Eindrücke von Ecuador, Gerti u. Karl
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