Ein Nikolaus in Flipflops

Zwei ganz müde Menschen
Schon über drei Monate bin ich jetzt in Ecuador und mit der Zeit gewöhnt man sich an alles: An den Lärm, in Form von getunten Motorrädern oder Reggaetonfiesta bis spät in die Nacht, die Straßenhunden, die auch mal im Rudel unterwegs sind und die unglaubliche Aufmerksamkeit, die man hier als "Gringa"(Das lateinamerikanische Wort für "Weiße", meist spöttisch gebraucht) auf den Straßen bekommt. 
Besonders in der Stadt von Santo Domingo, welche in den letzten Jahren durch enormes Städtewachstum entstanden ist und deshalb wohl nicht zu den schönsten Städten Ecuadors zählt, merkt man, dass wir hier eine Besonderheit sind: Touristen sieht man hier nur sehr selten. Wegen unserer auffälligen Herkunft (zwischen all dem schwarzen Haar falle ich hier besonders auf) müssen wir uns hier einiges gefallen lassen: Der ständige Versuch, uns beim Einkaufen, Buchen und Taxifahren übers Ohr zu hauen und die schlechten Flirtereien einiger Männer (meist auf Englisch).

Doch trotzdem fühlt man sich hier auch oft willkommen: Man wird nett gegrüßt, oft auch gefragt, weshalb man hier ist und wie lange, oder von den Nachbarn mit auf ein Dorffest genommen. Diese Feier erinnert hier so ein wenig an ein Volksfest: Es gibt ein Riesenrad, das uns quälende zehn Minuten in blitzschneller Geschwindigkeit befördert, einen Zug, der aussieht wie eine Raupe, und eine Bühne, auf der ein paar traditionelle Bands auftreten.

Und so bekomme ich auch einige Einblicke in das Nachtleben der Stadt: Zum 11-jährigem Bestehen des Regierungsbezirks Santo Domingo de los Tsáchilas findet eine große Feier statt. Zuerst dürfen wir uns dabei einen Umzug mit Tanzgruppen, die die verschiedenen Regionen Ecuadors, aber auch moderne Tänze darstellen, ansehen. Mit lauter Musik, blinkenden und bunten Umzugswägen und vielen Kostümen erinnert diese Veranstaltung fast an den Fasching in Deutschland.
Ein weiteres Highlight des Jubiläums ist ein Konzert von Natti Natasha, das kostenlos für alle angeboten wird. Auf Einladung des Bürgermeisters bietet sie eine große Show vor einem Publikum, das gefühlt aus der Hälfte aller Einwohner Santo Domingos besteht. Wie sich der Bürgermeister leisten konnte, eine Show der berühmtesten Reggaetonkünstlerin Lateinamerikas zu bezahlen, bleibt mir hierbei eine Frage. In der Menschenmenge herrschen erdrückende Zustände: Viel zu viele Menschen auf zu wenig Platz, und überall kaufen sich Leute Stühle, um höher zu stehen und mehr sehen zu können. Nach circa einer halben Stunde in der Menge halten wir es nicht mehr aus und folgen ein paar Konzertbesuchern über eine Zeit in einen abgeschiedenen Bereich. Dort angekommen stellt sich dieser als VIP-Bereich der Veranstaltung heraus, in den hunderte verzweifelt versuchen einzudringen. Die Sicherheitsleute drohen den Massen jetzt sogar mit Schlagstöcken und wir sind echt froh, schon drin zu sein. Von dort aus haben wir einen guten Blick auf die Bühne und können dann endlich, nach stundenlangem Warten, Natti Natasha live erleben.
Seien es gesalzene Cocktails, ein Einblick in die Technoszene Santo Domingos oder einfach eine Einladung bei den Nachbarn: Jedes Mal in der lateinamerikanischen Partyszene bietet sich eine neue und interessante Erfahrung.

Und obwohl ich schon ein Vierteljahr hier bin, erlebe ich hier immer noch neue, aufregende und interessante Dinge. So begleite ich etwa Patrick zur Untersuchung beim Kinderarzt im öffentlichen Krankenhaus von Santo Domingo. Offiziell gibt es in Ecuador kostenlose und für alle zugängliche medizinische Versorgung, doch die Realität sieht ein wenig anders aus: So muss man etwa Medizin und 
Krankenschwestern teilweise selber bezahlen. Beim Warten auf den Termin sollte man außerdem mit mindestens 1,5h Stunden Verzögerung rechnen, was mit einem Kleinkind schon mal anstrengend werden kann. Überraschenderweise ist das Krankenhaus dagegen sauber und modern ausgestattet.

Eine Wand in Arbeit
Eine besondere Aufgabe im Monat November ist das Anmalen einer großen Wand im Heim.
Das nimmt allerdings gleich zwei Samstage, ein paar Klamotten und ziemlich viel Kreativität in Anspruch. Nach ein paar Überlegungen werden dann schließlich eine Unterwasserwelt, ein Strand, Landschaft mit Bergen und jeweils ein Motivabschnitt für Deutschland und für Ecuador an die Wand gezaubert. Bei musikalischer Untermalung der Arbeit entsteht ein kleines Kunstwerk für die Kinder, das auf jeden Fall für längere Zeit im Heim zu sehen bleibt. Gemeinsam mit allen Freiwilligen und zeitweise auch mit der Unterstützung von ein paar Kindern, macht die Arbeit besonders viel Spaß. Immer wieder schauen Jungs oder Erzieher vorbei, um zu sehen, was hier gerade entsteht. Kein Wunder, dass wir alle mächtig stolz sind, als die Wand fertig wird. 

Im Wasserfall
Neben unserer Arbeit an der Wand bleibt an den Wochenenden noch Zeit für einen Ausflug: Wir fahren zu den Cascadas de Armadillo, Wasserfällen, knapp 1,5h von Santo Domingo entfernt. Da die Regenzeit gerade erst angefangen hat, sind diese allerdings noch ein wenig klein. Genau richtig, sodass man sogar hinschwimmen und darunter klettern kann. Die Strömung wird, je näher man dem circa 25 Meter hohem Wasserfall kommt, immer stärker, sodass man sich ganz schön anstrengen muss, um dort anzukommen. Nachdem wir ein paar Bilder in und um dem Wasserfall gemacht haben, gehen wir mit unserem Führer (der Ehemann der Psychologin vom Heim) zum "Canopy" eine Seilbahn, die vor dem Wasserfall vorbeigeht. 
Beim Baden sind wir allerdings wieder die einzigen in Badekleidung (das ist hier echt nicht üblich, besonders die Frauen gehen meistens sehr bedeckt ins Wasser), sodass wir praktisch der Blickfang des ganzen Flussbades sind. 

Nachdem jetzt schon ein wenig Zeit für alle vergangen ist, kommen auch schon die ersten Besuche für meine Mitfreiwilligen: Mit ihnen wird ein wenig gereist, aber hauptsächlich werden die Stadt Santo Domingo, das Heim, die Finka und die weiteren Attraktionen Santo Domingos hergezeigt. Die Gäste dürfen in einer Gastwohnung des Heims schlafen und mitessen. 
Das Essen wird dabei besonders interessant. Zwar gibt es meistens normale Gerichte wie Reis mit Hühnchen oder Rindfleisch, aber hin und wieder erwischen wir auch kulinarische Spezialitäten wie Schweinehaut oder Kuhmagen, welche beide nicht zu meinen Favoriten zählen.

Ab dem Monat Dezember findet außerdem jeden Mittwoch eine Basketballstunde für die "Großen" im Heim statt, die von Freiwilligen organisiert wird. Auch ich nehme daran teil und nutze die Zeit, um ein wenig Sport mit den Jungs zu machen. Obwohl die Stunde eine kleine Herausforderung darstellt, da es etwas schwieriger ist, mit den Teenagern zu arbeiten und sie auch wirklich zum Mitmachen zu motivieren, macht die Stunde echt Spaß.
Auch die Arbeit an einem neuen Projekt bietet ein wenig Abwechslung: Wir wurden gebeten, für eine Aufführung einen Tanz vorzubereiten. Jedes Haus, die Gruppe der Notunterkunft, das Sozialteam, die Allerkleinsten und auch wir werden vor den Zuschauern vortanzen müssen und so einen Tanz aus einer Region, einem Land oder etwas anderem vorzustellen. Wir haben uns dabei für ein bayrisches Lied mit einem einfachen Tanz entschieden und sind schon ganz gespannt darauf, wenn wir ihn vorstellen können.

Nach etwa einem Monat Arbeitsalltag, der nur selten durchbrochen wird, nähert sich langsam die Weihnachtszeit. Doch eine wirkliche Weihnachtsstimmung kommt hier nicht auf: 30 Grad statt weißer Weihnacht, Reggaeton und Salsa statt Last Christmas und Mangos statt Mandarinen verhindern, dass sich jeglicher Gedanke einschleicht, Weihnachten könnte doch vor der Tür stehen. Und obwohl wir wirklich versuchen, dagegenzuwirken, etwa durch Plätzchenbacken, Basteln von Weihnachtsschmuck oder Weihnachtslieder, fühlt es sich immer noch an wie August, als wäre keine Zeit vergangen, seitdem ich hier angekommen bin. 
Für die Ecuadorianer allerdings ist das ganze völlig normal und so lassen sie sich durch nichts aufhalten, im Oktober bereits eine riesige Plastiktanne mit Blinklichtern und 300 glitzernden Weihnachtskugeln aufzuhängen. Über den Stromleitungen hängt jetzt Lametta und im Supermarkt Coral stapeln sich die Weihnachtsgeschenke. 
Den Höhepunkt erreicht für mich der Weihnachtswahnsinn mit dem Black Friday, ein ganzes Wochenende, an dem im Supermarkt apokalyptische Zustände herrschen: Menschenmassen strömen hinein, um sich mit Bergen von Plastikwaren, Spielzeugen und Lebensmitteln einzudecken und zahlen dazu sogar in Raten ab. 

Doch auch im Heim sollen die Kinder auf die Weihnachtszeit eingestimmt werden. So findet jeden Sonntag der Adventsgottesdienst statt, bei dem gesungen, Kerzen angezündet und sogar eine Prozession veranstaltet wird. Am Ende wird, wie in Deutschland, eine Kerze auf dem Adventskrank angezündet. Auch unsere Teilnahme am Gottesdienst ist erwünscht, denn wir sollen während der Kommunion und am Anfang der Prozession ein Adventslied singen. 
Besonders viel Freude hat uns die Nikolausaktion bereitet, die wir geplant haben. Mit gebastelten Bischofsmitren, dem Nikolauslied und einer Box voller Mangos (Mangos statt Mandarinen) gehen wir von Haus zu Haus, ich lese die Geschichte des San Nicolás vor und wir singen das klassische "Lasst uns froh und munter sein". Zwar fühlt es sich komisch an, mal in die andere Rolle zu schlüpfen, aber den Kindern (und Erziehern) bereitet diese Aktion viel Freude.
Und auch obwohl unsere Version nicht eine ganz getreue Nachbildung ist (Flipflops, keine Stiefel), freut es mich trotzdem, den Kindern diesen Teil unserer Heimat und Tradition zu zeigen.
Zurzeit ist noch ein Krippenspiel in Arbeit, das am ersten Weihnachtsfeiertag im Heim präsentiert werden soll. Dazu wird geprobt, Kostüme und Requisiten gebastelt und auch die musikalische Begleitung rausgesucht. 

Die Weihnachtszeit ist hier wohl die schwierigste Phase. Ein Fest, das man mit der Familie verbringt und von so vielen Traditionen geprägt ist, findet hier im Kreise des Heims statt. Besonders jetzt kommt langsam das erste Heimweh auf. Wie wird es wohl werden, nicht daheim, sondern am anderen Ende der Welt zu feiern? Ohne Zweifel kann das Weihnachten hier niemals das von daheim darstellen, doch trotzdem hoffe ich auf eine Zeit voll Freude, Frieden und vor allem vielen großen Weihnachtsessen. 
Nikolaus in Flipflops










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